Rede auf der Gedenkveranstaltung zum 79. Jahrestag der Ermordung der Mitglieder der „Weißen Rose“
1. März 2022
Rede von Heike von Borstel für die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Hamburg auf der Gedenkveranstaltung am 26.2.2022 zum 79. Jahrestag der Ermordung der Mitglieder der „Weißen Rose“ München am 22.02.1943 in Volksdorf
Liebe Anwesende!
Ich begrüße Euch und Sie im Namen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten zu unserem Gedenken an die ermordeten Mitglieder der „Weißen Rose“ in München und Hamburg.
Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Das war 1945 der Wunsch und die Forderung der Befreiten und das Leitbild unserer antifaschistischen Vereinigung und der uns heute hier unterstützenden Organisationen.
Nie wieder Krieg! Das war auch die Forderung der „Weißen Rose“.
Und nun stehen wir hier und wollen der Ermordeten gedenken, wie jedes Jahr kurz vor oder nach ihrem Hinrichtungstag am 22. Februar 1943,
aber unsere Gedanken und Gefühle kreisen in diesen Tagen natürlich um den Krieg in der Ukraine.
Und doch möchte ich euch und Sie bitten, heute, in dieser Stunde, hier derer zu gedenken, die vor 79 Jahren ermordet wurden, weil sie gegen Hitler, den Faschismus und den Krieg Widerstand geleistet haben.
Letzten Dienstag vor 79 Jahren wurden die junge Widerstandskämpferin Sophie Scholl, ihr Bruder Hans Scholl und ihr gemeinsamer Freund Christoph Probst am 22.2.1943 in München nach einem kurzen Prozess, in dem Roland Freisler, der Präsident des sogenannten Volksgerichtshofes sie zum Tode verurteilt hatte, grausam mit dem Fallbeil hingerichtet. Auch ihre Kommilitonen und Freunde Alexander Schmorell und Willi Graf und Professor Kurt Huber wurden kurz nach ihnen verurteilt und auf die gleiche Weise ermordet. Ihre Namen finden Sie hier links auf der Gedenkplatte.
Sie alle und viele weitere mutige Helferinnen und Helfer schrieben und verbreiteten im Krieg Flugblätter gegen das Naziregime, versuchten ihre Mitmenschen aufzurütteln und vom notwendigen Kampf gegen Hitler zu überzeugen. Die ersten 4 Flugblätter trugen die Überschrift: „Flugblatt der Weißen Rose“. Darum wurden sie nach der Befreiung vom Faschismus die „Weiße Rose“ genannt.
Sie wollten Freiheit und Frieden. Und sie wagten es, obwohl das lebensgefährlich war, nachts Parolen an die Wände zu schreiben – in München, Hamburg und anderswo. „Nieder mit Hitler“ und „Freiheit“.
Sie wollten offen ihre Meinung sagen, offen politische Diskussionen führen dürfen. Sie wollten die verbotenen Bücher lesen, die sogenannte „entartete Kunst“ kennen lernen, Swingmusik hören, tanzen.
Sie wollten, dass die massenhafte Ermordung der jüdischen Menschen, die unbeschreiblichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in den besetzten Gebieten aufhört.
Sie wollten, dass das sinnlose Abschlachten so vieler Menschen aufhört. Einige von ihnen waren als Soldaten im Krieg oder als Medizinstudenten im Kriegseinsatz gewesen und hatten die Grausamkeiten des Krieges und der Verbrechen gegen die Zivilgesellschaft mit eigenen Augen gesehen.
Sie forderten in ihren letzten Flugblättern zur Sabotage in den kriegswichtigen Fabriken auf, zur Verweigerung aller Aktivitäten des faschistischen Regimes.
Und sie hofften auf viele mutige Menschen, die es ihnen gleichtaten, baten um die Vervielfältigung und Weitergabe ihrer Flugblätter, suchten unter Lebensgefahr weitere Mitstreiterinnen und Mitstreiter in ihrem Kampf. Sie versuchten, sich mit anderen politischen Widerstandsgruppen zu „vernetzen“. Und das unter der ständigen Bedrohung, entdeckt zu werden.
Insgesamt waren es 6 Flugblätter gegen das Naziregime, die diese mutigen jungen Menschen geschrieben und mit Hilfe anderer im ganzen Reich verbreiteten.
So kamen die Flugblätter u.a. durch die Studentin Traute Lafrenz und nach der Ermordung der Geschwister Scholl und ihrer Freunde in München durch den Hamburger Chemiestudenten Hans Leipelt und seine Freundin Marie Luise Jahn nach Hamburg. Im Hause seiner Mutter Katharina Leipelt hatten sich schon früh regelmäßig Menschen getroffen, um sich über ihre Kritik am Regime auszutauschen. Zu den Freundinnen von Katharina gehörten Elisabeth Lange und Margarethe Mrosek. Der Amtsgerichtsrat Dr. Kurt Ledien fand über seine Kinder Zugang zur Familie Leipelt. Auch in den Räumen der Buchhandlungen „Agentur im Rauhen Haus“ am Jungfernstieg 50, deren Juniorchef der Germanistik- und Philosophiestudent Reinhold Meyer war und der Hamburger Bücherstube von Felix Jud, trafen sich immer wieder und mit der Zeit immer mehr Menschen, um über Hitler und das unmenschliche System der faschistischen Regierung zu sprechen und zu überlegen, wen sie noch in ihren Widerstand einbeziehen könnten. Ehemalige Schülerinnen und Schüler der einst reformorientierten Lichtwarkschule wie Margaretha Rothe, Traute Lafrenz oder der Wellingsbüttler Karl Ludwig Schneider, die sich auf geheimen Leseabenden bei ihrer ehemaligen, strafversetzten Lehrerin Erna Stahl näher kennenlernten, fanden zum Widerstandskampf. So wie auch viele Ärztinnen und Ärzte und Medizinstudentinnen und Studenten am Universitätskrankenhaus Eppendorf, die sich dort candidates of humanity nannten und zu denen die Medizinstudentin Margaretha Rothe und der Medizinstudent Frederick Geussenhainer gehörten.
Sie wurden denunziert, von Gestapospitzeln verraten und auf grausamste Weise gequält und ermordet. Erna Stahl, Traute Laferenz und Karl Ludwig Schneider überlebten. Nach 1945 nannte man sie den „Hamburger Zweig der Weißen Rose“, weil es vielfältige Verbindungen gab und sie die Flugblätter auch in Hamburg verbreiteten. Ihre Namen stehen hier auf der rechten Seite der Gedenkplatte.
Erinnern – Gedenken – Mahnen – Gegen das Vergessen – gegen das Verschweigen und Verdrängen – die Lebens- und Leidensgeschichten der Ermordeten erzählen – ihnen Gesichter geben – durch Stadtteil- und Stolpersteinrundgänge, Veranstaltungen, Filme, Mahnwachen – Mahnmale – wie dieses hier.
Erst zwei Schulen in Hamburg wurden nach Ihnen benannt: Das Margaretha- Rothe- Gymnasium in Barmbek und die Stadteilschule Elisabeth Lange in Harburg.
In Barmbek bin ich groß geworden und an der Harburger Schule habe ich 18 Jahre gearbeitet.
Und jetzt lebe ich in Wandsbek, einem großen Bezirk, der nun schon seit langem und in letzter Zeit noch einmal verstärkt um die Erinnerung an den Nationalsozialismus, seine Opfer und den Widerstand gegen den Faschismus bemüht. Großartig. Und ich lebe jetzt in einem Stadtteil, in dem mitten im Ortszentrum ein von Bürgern in den siebziger Jahren erkämpftes Gedenk- und Mahnmal für die „Weiße Rose“ steht, das zwischenzeitlich plötzlich verschwunden war und dank Herrn Stockhecke und dem „Arbeitskreis Weiße Rose“ wiedergefunden wurde und seitdem hier fest verankert ist.
Es gibt einen Informationsraum in der Bücherhalle und dank der Arbeit des Geschichtsraums Walddörfer inzwischen sehr viele Stolpersteine. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die mit ihren Lehrerinnen und Lehrern die Erinnerung wachhalten und Mitarbeiterinnen und Konfirmanden der Volksdorfer Kirchen – um nur einige zu nennen.
Auch mitten in unserer Stadt Hamburg im ehemaligen Gestapohauptquartier im Stadthaus könnte es ein zentrales, die Verfolgung und den Widerstand in Hamburg umfangreich würdigendes Gedenken geben. Tut es aber immer noch nicht! Und das ist ein absoluter Skandal! Seit 4 Jahren geht dieses unwürdige „Spiel“ um die Räumlichkeiten in den mondänen Stadthöfen, in denen Hamburg zum Flanieren eingeladen ist! Selbst jetzt, wo es nach der Insolvenz der kleinen sogenannten Gedenkbuchhandlung einen mit großer Mehrheit gefassten Beschluss der Hamburger Bürgerschaft für einen Gedenk- und Lernort genau dort gibt, will der Kultursenator dieser Stadt lieber nur die Täter dort darstellen und den Widerstand weit weg von der Innenstadt in Fuhlsbüttel ausstellen.
Wir fordern immer noch einen Dokumentations-, Lern- und Gedenkort im Stadthaus!
Ach, Esther Bejerano, du fehlst! Wenigstens hat dein letzter und aller Betroffenen Kampf gegen die Gedenkstätte Hannoverscher Bahnhof in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Firma Wintershall, deren Vorgänger das Zyklon B hergestellt haben, Wirkung gezeigt, wenn auch erst nach deinem Tod.
Was ist denn das für eine Erinnerungspolitik?! So viel Gedankenlosigkeit, fehlende Empathie und Zynismus kann man doch gar nicht fassen – und doch ist es so. Was kommt noch?! Diese Frage haben wir hier vor einem Jahr gestellt. Heute können wir sie beantworten: Die Gedenkstätte Bullenhuser Damm ist in Gefahr – die Schule, in der noch in den letzten Tagen vor der Befreiung 20 Kinder, ihre holländischen Pfleger und sowjetische Kriegsgefangene ermordet wurden und Bürgermeister Tschentscher noch in Coronazeiten eine Erinnerungsrede gehalten hat.
Nehmt euch doch ein Beispiel an dem Wandsbeker Bezirk oder Hamburg Nord, an Volksdorf…. oder an anderen Städten in unserem Land!
Lasst uns die Wünsche und das Vermächtnis der Mitglieder der Weißen Rose und aller anderen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer weitertragen!
Sie waren keine Helden, keine Märtyrer oder Heilige. Sie waren Menschen, die für ihre tiefe Überzeugung einstanden und handelten, wo andere schwiegen. Sie wollten informieren, aufrütteln, handeln.
Und wir? Wir müssen das auch tun- noch viel lauter als bisher.
Es ist dringender denn je!
Der Mord an Walter Lübcke, die Morde von Halle und Hanau, die furchtbaren Hass gegen demokratische Kräfte schürende AfD, die Mord und Umsturz planenden Netzwerke in Polizei und Bundeswehr – und gleichzeitig der Versuch, ausgerechnet der von ehemals Verfolgten 1947 gegründeten größten antifaschistischen Vereinigung in unserem Land, der VVN, die Gemeinnützigkeit zu entziehen, hat viele Menschen in unserem Land aufgeschreckt und gezeigt, dass der Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus, gegen alte Faschisten und neue Nazis alternativlos und immer noch nicht selbstverständlich ist.
In unserer Stadt, in Barmbek und anderen Stadtteilen ziehen wieder, von den sie umgebenden Demonstrantinnen und Demonstranten gegen die Coronamaßnahmen offensichtlich geduldeten, Nazis. Werden Judensterne bei Demos getragen. Wie abscheulich, verharmlosend, zynisch ist das?!
Wie lange versuchen die vielen Antifaschistinnen und Antifaschisten in unserer Stadt, in unserem Land deutlich zu machen, welche Folgen diese ungebremste Rechtsentwicklung haben wird? Wie lange sagen wir schon: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen? Und wir fragen auch immer noch sehr laut: Wen schützt eigentlich der Verfassungsschutz vor wem?
Was passiert stattdessen? Wir werden als Linksextremisten beschimpft und von der CDU-Politikerin Lindholz während der Aktuellen Stunde zum Thema „Kampf gegen Rechtsextremismus“ im Bundestag mit den Mördern gleichgesetzt.
Und nun hat es auch unsere neue Bundesministerin für Inneres Nancy Faeser getroffen. Endlich eine Innenministerin, die in ihren ersten öffentlichen Äußerungen über ihre zukünftige Arbeit die Dringlichkeit des Kampfes gegen den Rechtsextremismus deutlich gemacht hat!
Wir sind sehr froh und dankbar dafür, dass diese Hetzkampagne ins Gegenteil umgeschlagen ist und sich viele Menschen mit ihr und uns solidarisiert haben.
Lasst uns das Vermächtnis der Weißen Rose weitertragen, ihren Geist weiterleben, lasst uns für eine diesen Namen verdienende Erinnerungspolitik in unserer Stadt kämpfen, damit nicht nur an Gedenktagen Betroffenheits-Reden gehalten werden und lasst uns – für uns, für unsere Kinder und Enkelkinder – gemeinsam dieser Rechtsentwicklung entgegentreten und im 76. Jahr der Befreiung von Faschismus und Krieg – auch im Namen all dieser ermordeten lieben Menschen- alles dafür tun: Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!
Wir haben die letzten Jahre die Rede mit einem Zitat von dem ermordeten tschechischen Widerstandskämpfer Julius Fucik beendet und möchten das auch heute tun.
Ihr findet es im Torhaus des Kolafus – des ehemaligen Konzentrationslagers Fuhlsbüttel:
„Um eines bitte ich: Ihr, die ihr diese Zeit überlebt, vergesst nicht. Sammelt geduldig die Zeugnisse über die Gefallenen. Eines Tages wird das Heute Vergangenheit sein, wird man von der großen Zeit und von den namenlosen Helden sprechen, die Geschichte gemacht haben. Ich möchte, dass man weiß, dass es keine namenlosen Helden gegeben hat. Dass es Menschen waren, die ihren Namen, ihr Gesicht, ihre Sehnsucht und ihre Hoffnung hatten, und dass deshalb der Schmerz auch des letzten unter ihnen nicht kleiner war als der Schmerz des ersten, dessen Name erhalten bleibt. Ich möchte, dass sie alle euch immer nahe bleiben, wie Bekannte, wie Verwandte, wie ihr selbst.“
Und darum ist es auch gut, dass die Gedenk-Rose hier mitten in unserem Alltag steht.
„Wer die Geschichte nicht erinnert, ist verurteilt, sie neu zu durchleben“ (Zitat des spanischen Philosophen George Santayana am Eingang des Blocks 4 im KZ Auschwitz)
Ich werde jetzt noch einmal alle Namen der Frauen und Männer der „Weißen Rose“, derer wir hier heute gedenken, vorlesen und danach singen wir noch das Lied der Moorsoldaten.
Für alle, die das erste Mal dabei sind: Wir schließen unsere Veranstaltung immer mit dem Lied der Moorsoldaten. Dieses Lied ist im KZ Esterwegen entstanden. Wer mag, kann es gerne mitsingen.
Ich bitte euch, eine Weile still dieser Menschen zu gedenken:
Sophie Scholl, Hans Scholl, Christoph Probst, Alexander Schmorell, Willi Graf, Professor Kurt Huber, Hans Leipelt, Katharina Leipelt, Margaretha Rothe, Dr. Kurt Ledien, Margarethe Mrosek, Elisabeth Lange, Frederick Geussenhainer und Reinhold Meyer.
Vielen Dank für euer Kommen und das Zuhören!
Und bleibt bitte gesund!
Noch drei Hinweise für alle, die sie noch nicht gesehen haben:Im Kulturzentrum Bürgerhaus Meiendorf hängt nur noch ein paar Tage die Ausstellung über den Widerstand in Wandsbek und dort findet ihr auch dieses kostenlose, umfangreiche Buch mit dem gleichen Titel.
Am 18. März um 16 U. findet eine Kundgebung am Stadthaus statt.
Und wer die Position der VVN zum Krieg in der Ukraine lesen möchte, findet sie auf der Website der VVN BdA.