Rede von Ilse Jacob bei der Feierstunde der Bezirksversammlung Hamburg-Nord am 27. Januar 2018
29. Januar 2018
Widerstand, Woche des Gedenkens Nord
Mein Thema ist heute „Politische Verfolgung in der NS-Zeit“, ich möchte aber auch davon reden, was diese Menschen getan haben, warum ihre Arbeit den Nazis so gefährlich erschien, dass sie sie mit der ganzen Macht ihres Staatsapparates verfolgten.
Am 5. März 1933 fand die letzte, noch halbwegs demokratische Reichstagswahl statt, die Hitler nicht die erwartete Mehrheit der Stimmen brachte. Am Tag danach, am 6. März – es war der 26. Geburtstag meiner Mutter – stand morgens um 6 Uhr die (Ge)Stapo vor der Tür. Sie fragte nach ihrem Mann Walter Hochmuth, der Bürgerschaftsabgeordneter der KPD war. Er war schon seit dem Reichstagsbrand nur noch ganz selten nach Hause gekommen und wurde nun gesucht. Ihre zweijährige Tochter Ursel wurde von einem der Polizisten (scheiß) freundlich gefragt: „Wo ist denn dein Papa?“ „Bei Omi Möller“ hätte sie durchaus antworten können, denn dort hatte sie ihn eine Woche vorher gesehen. Aber sie antwortete: „Alle weg. Such mal“ Meine Mutter vergab ihr – wie sie in ihren Erinnerungen schreibt – auf der Stelle die vielen Male, in der sie sie mit diesem Satz geärgert hatte, wenn sie keine Lust hatte, z.B. nach ihrem verschwundenen Hausschuh zu suchen.
Danach konzentrierte sich das Interesse der Gestapo auf den Bücherschrank. Dass Schriften von Marx, Engels, Lenin beschlagnahmt wurden, konnte meine Mutter noch verstehen, als aber auch Bücher von Bücher von Dostojewski, Tolstoi und anderen Schriftstellern auf den Boden fielen, wagte sie zu sagen, das seien doch Werke der Weltliteratur. Da wurde ihr verächtlich geantwortet: „ki’s und toi’s, diese Russen…
Walter Hochmuth hat in Hamburg untertauchen können und floh 1934 nach Dänemark. Sie hat ihn erst 1943 wiedergesehen, als er von der Gestapo aus Südfrankreich nach Hamburg gebracht worden war. Ihre Ehe war 1939 geschieden worden, es gab eine andere Frau und ein weiteres Kind im Leben von Walter Hochmuth.
Im Juli 1933 wurde meine Mutter zum erstenmal verhaftet. Sie hatte einer ihr nur flüchtig bekannten Mitarbeiterin der Partei erzählt, sie habe den Bürgerschaftsabgeordneten Fiete Dettmann gesehen. Meine Mutter hat darüber berichtet: „Am späten Abend wurde ich verhaftet. Das „Kommando zur besonderen Verwendung“ (KzbV) holte mich ab und brachte mich zu ihrem berüchtigten Hauptquartier Hohe Bleichen, das mit dem Stadthaus verbunden war.
Als ich nach Stunden, lange nach Mitternacht, endlich zum Verhör kam, wollte man zu meinem Entsetzen „nur“ wissen, wo ich Fiete Dettmann gesehen hätte. Ich wusste sofort, wem ich diese Aussage zuzuschreiben hatte und leugnete, je etwas in dieser Richtung gesagt zu haben.
Als ich keine Aussage machte, drückte man mir unter jeden Arm eins der schweren Hamburger Adressbücher mit der „freundlichen“ Aufforderung, nur eine Adresse mir einfallen zu lassen, dann könne ich nach Hause gehen. Eine grelle Lampe schien mir ins Gesicht, ebenso wurde ich von starken Seitenlampen angestrahlt. Mir gegenüber an der Wand tickte eine Uhr. Ich hörte sie ticken, hatte aber das Gefühl. dass die Zeiger sich nicht von der Stelle bewegten. Ich war übermüdet, die Bücher wurden immer schwerer. Die Gedanken kreisten um Ursel, um meine Genossen, um die Frau, die sich als Spitzel entpuppt hatte. Was konnte noch auf mich zukommen? Die Methoden des KzbV waren mir bereits zu gut bekannt.
Stunden waren vergangen. Ich wollte es nicht glauben, aber die schreckliche Uhr bewies es. Da forderte mich ein Kriminalbeamter, der in Zivil an einem Tisch saß, auf, die Adressbücher hinzulegen und zu ihm zu kommen. Ich konnte mich setzen. Er könne meine Haltung, nichts auszusagen, verstehen, meinte er. Wie ich Kommunist sei, sei er überzeugter Nationalsozialist. Er würde ebenfalls keinen Kameraden verraten, gleich, was ihm daraus erwachse. Ich hätte nun sogar noch ein kleines Kind. Ich antwortete nicht. Er meinte dann, es interessiere ihn ausschließlich aus psychologischen Gründen: „Wissen Sie wirklich nichts oder wollen Sie nur niemanden verraten?“ Ich erwiderte, dass ich wirklich nichts wisse. Seine Antwort erfolgte schnell: „Dann nehmen Sie man wieder die Adressbücher!“
Da stand ich wieder unter der furchtbaren Lampe und begriff es irgendwie nicht, dass ich tatsächlich immer noch stand. Ein gutes Gefühl, bis jetzt durchgehalten zu haben, hatte ich aber auch.
Der neue Tag zeigte sich schon durch ein Fenster, da führte man mich in einen Nebenraum. An den Tischen erkannte ich einige Barmbeker Genossen mit blutigen Gesichtern und blutverschmierter Kleidung.“ Einem konnte sie zuflüstern, wer der Spitzel war.
Das waren ihre ersten Erfahrungen mit der Gestapo. Sie wurde nach fünf Monaten aus dem Konzentrationslager Fuhlsbüttel entlassen. In ihrem späteren Prozess 1934 wurde sie zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, das sie im Frauengefängnis Lübeck-Lauerhof absaß. Ihre Tochter Ursel war in dieser Zeit bei Freunden in guten Händen.
Mein Vater, Franz Jacob, ebenfalls KPD-Bürgerschaftsabgeordneter, war im August 1933 in Berlin verhaftet , nach Hamburg übergeführt worden und nach schwersten Misshandlungen zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach Verbüßung seiner Haftstrafe wurde er nicht entlassen, sondern vier Jahre im Konzentrationslager Sachsenhausen eingesperrt.
Als ich im November 1942 geboren wurde, war mein Vater seit drei Wochen auf der Flucht vor der Gestapo. Er war zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt und hatte sieben Jahre Haft hinter sich. Meine Mutter war 35 Jahre alt und hatte neben ihrer Gefängnishaft mehrere Monate „Schutzhaft“ im Konzentrationslager Fuhlsbüttel verbracht.
Die beiden hatten sich 1940 nach der Entlassung meines Vaters aus dem KZ näher kennen gelernt und im Dezember 1941 geheiratet. Eine ihrer Trauzeugen war Gertrud Klempau, die Klassenlehrerin meiner Schwester Ursel Hochmuth. Diese sozialdemokratische Lehrerin hat meiner Mutter mehrfach beigestanden, z.B. hat sie, als meiner Mutter Anfang 1939 das Sorgerecht für ihre Tochter entzogen wurde, die Vormundschaft übernommen. Das tat sie, obwohl in ihrer Personalakte sicher stand, dass sie schon 1933 aus politischen Gründen strafversetzt worden war. Ein schönes Beispiel für Zivilcourage und für Solidarität unter Antifaschisten.
Mein Vater war zwischen 1940 und 1942 am Aufbau einer Widerstandsorganisation beteiligt, die in der Forschung „Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe genannt wird. Über sie heißt es bei Wikipedia: Sie „war die größte organisierte Hamburger Widerstandsgruppe gegen den Nationalsozialismus und bestand von 1940 bis 1945. Sie umfasste etwa 300 Mitglieder in 30 Betrieben. 70 von ihnen wurden zwischen 1942 und 1945 ermordet.“ Übrigens waren etwa ein Drittel der Mitstreiter Frauen.
Der Schwerpunkt der Arbeit der Widerstandsorganisation lag in Hamburger Betrieben, weil sie der Auffassung war, dass es wie in der Novemberrevolution gelingen müsste, die Arbeiter für den Widerstand zu gewinnen. Ihre Tätigkeit bestand vor allem in antifaschistischer Aufklärungsarbeit z.B. in Bezug auf die Kriegsziele der Naziregierung. So heißt es in einer auch in Hamburg 1942 verbreiteten Schrift: „Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab dem deutschen Imperialismus die Möglichkeit, sich wichtiger Rohstoffgebiete zu bemächtigen. Die Beschließung der Ostsee brachte die schwedischen Erze in seine Hand. Die Besetzung Belgiens, Nordfrankreichs gab ihm die Verfügung über die dortigen Eisenerze und Kohlevorkommen. Der Vormarsch nach Rumänien führte zur Beherrschung der rumänischen Erdöllager. Gleichzeitig kamen in Holland, Frankreich und Ungarn sowie Dänemark bedeutende Agrargebiete unter seinen Einfluss … Die polnische Schwerindustrie ist in ihren wesentlichen Teilen in den Besitz des deutschen Monopolkapitals überführt worden… Der Hauptschlag sollte 1941 erfolgen, als der deutsche Imperialismus nach dem ukrainischen Weizen und den ukrainischen Erzen, nach dem kaukasischen Erdöl griff.“
Gerade am heutigen Tag, an dem wir an die Befreiung von Auschwitz erinnern, ist es wichtig auch zu erinnern: Solange es die deutsche Wehrmacht gab, gab es Auschwitz.. Die Hamburger Widerstandsorganisation hatte in einem Flugblatt schon 1942 erklärt: „Hitlers Niederlage ist nicht unsere Niederlage, sondern unser Sieg.“
Mitkämpfer der Gruppe wirkten mit bei Solidaritätsaktionen für ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene: Es begann mit kleinen Solidaritätsgesten, Lebensmittel-, Tabak- und Kleidersammlungen und führte über den Informations- und Gedankenaustausch in vielen Fällen zu koordinierten Aktionen für eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Ausländer und zur Störung der Rüstungsproduktion.
Für wie wichtig die Gestapo die illegale Arbeit in den Betrieben hielt, zeigt ein Bericht der Nazi-Justiz aus dem Jahr 1943: „ Ihre bisherige Tätigkeit bedeutet eine große Gefahr, wenn man berücksichtigt, dass es sich bei Blohm & Voss um einen der wichtigsten Rüstungsbetriebe in Deutschland handelt, deren Belegschaft nicht immer einwandfrei ist und wo weiter eine große Anzahl Ausländer beschäftigt ist.“
Dass die „Belegschaft nicht immer einwandfrei“ war, lag auch an der Fähigkeit der Nazigegner, vorsichtig Diskussionen in den Betrieben in Gang zu bringen z.B. gegen die 53-Stunden-Woche, gegen Lohnabzüge oder den zusätzlichen Luftschutzdienst.
Auch die Kenntnis der faschistischen Gewaltverbrechen war ein Antrieb für Aktionen gegen das NS-Regime. Mit dem Schicksal der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter wurden viele nahezu täglich in den Betrieben konfrontiert, die Situation in den Konzentrationslagern waren einem Großteil der Mitglieder der Widerstandsorganisation aus eigener Erfahrung bekannt, und auch in Hamburg lagen Berichte über die Mordaktionen der „Einsatzgruppen“ in den besetzten Gebieten vor. In einer 1942 in Hamburg verbreiteten Schrift heißt es dazu:
„Die Zahl der in Polen Getöteten wird auf 800.000 geschätzt, der in Jugoslawien Beseitigten auf 400.000. Die Juden werden ausgerottet, oft zu Tode gemartert. Von 3 Millionen russischen Zivil- und Kriegsgefangenen leben noch 600.000. Diese Blutschuld ist so ungeheuerlich, dass sie dem normalen Verstand und den menschlichen Gefühlen kaum mehr fassbar ist. Vor allen diesen Opfern steht jeder, den die Zeiten nicht völlig verroht hat, tief erschüttert.“
Ich habe das auch deshalb zitiert, weil ich zeigen möchte, was Menschen 1942 wissen konnten, wenn sie zwischen den Zeilen zu lesen vermochten, sich nicht auf die Berichterstattung in den Zeitungen und im Rundfunk verließen und die Nazipropaganda durchschauten. Ich möchte dafür noch ein anderes Beispiel nennen. Helmuth Hübener, Verwaltungslehrling, der im Alter von 17 Jahren hingerichtet wurde, schrieb 1942 in einem Flugblatt: „…zur Finanzierung des Krieges braucht man Geld und da dieses Geld so langsam auf die Neige geht, muss neues beschafft werden. So greift man zu der Parole „Eisernes Sparen“. Jeder deutsche Schaffende wird unter Drohungen freiwillig gezwungen, sich an dieser Sparaktion zu beteiligen. 13 bzw.26 RM, das sind die Raten, die allmonatlich der deutsche Arbeiter von seinem ohnehin schon kargem Lohn abknappen muss, damit mehr Kanonen, Tanks u. Flugzeuge zur weiteren Unterjochung Europas und der Welt hergestellt werden können.“
Wenn ich heute berichte, wie der Widerstand dieser Menschen ausgesehen hat, so darf man nicht übersehen, ,„welche außergewöhnliche persönliche Belastung die Teilnahme daran für den Einzelnen bedeutete. Denn natürlich unterlagen auch die Widerstandskämpfer der wöchentlichen Arbeitspflicht von 53 Stunden, standen vor Geschäften nach knapp gewordenen Lebensmitteln und Versorgungsgütern an, mussten nachts die Luftschutzkeller aufsuchen und versuchten trotz alledem noch, ein Stück Familien- und Privatleben aufrechtzuerhalten. Nahezu sämtliche Widerstandsaktivitäten konnten nur in der ohnehin spärlich bemessenen „Freizeit“ entwickelt werden. Hinzu trat die physische Anspannung durch die Angst vor den Verfolgern und das Doppelleben als aktiver NS-Gegner einer- und scheinbar harmloser Volksgenosse andererseits.“(Klaus Bästlein)
Meine Mutter hat über ihren Anteil an der Widerstandsarbeit nicht besonders viel erzählt, vielleicht auch deshalb, weil sie ihn nicht für so bedeutsam hielt. Sie habe Geld, Lebensmittel u.a. gesammelt, Quartiere besorgt, Texte mit möglichst vielen Durchschlägen mit der Schreibmaschine geschrieben, den Moskauer Rundfunk abgehört und dabei z.B. Heimatadressen von in sowjetische Kriegsgefangenschaft geratenen Soldaten notiert, die dann an deren Familien weitergegeben wurden , denn es hieß ja in den deutschen Medien „Die Russen machen keine Gefangenen.“
Über die Gründe, die ihn bewogen haben, organisierten Widerstand zu leisten, hat Bernhard Bästlein 1942 vor der Gestapo erklärt: „Der erste Faktor war meine siebenjährige Haft von 1933 bis 1940 — davon vier Jahre Konzentrationslager —, während der ich entsetzliche Dinge erlebt, gesehen und gehört habe. Diese Zeit hat mir jede Möglichkeit des Zweifels in Bezug auf meine weltanschauliche Grundeinstellung genommen, denn meine Überzeugung, dass eine Gesellschaftsordnung, in der solche Dinge möglich sind, wie ich sie erlebte, beseitigt werden muss, wurde dadurch grundfest gemacht, soweit das bisher noch nicht der Fall war.
Der zweite Faktor war der 1939 begonnene zweite Weltkrieg, der in mir alle Erinnerungen an den Krieg 1914 bis 1918 weckte, den ich zwei Jahre als Frontsoldat vor Ypern, an der Somme, vor Verdun und an anderen Frontabschnitten der Westfront mitmachte… Ich dachte an jene Millionen Menschen, die wie damals ihr Leben auf den Schlachtfeldern verlieren würden. …So war meine Arbeit dadurch bestimmt ,so schnell wie möglich den Frieden und die Beendigung des meiner Meinung nach sinnlosen Blutvergießens herbeizuführen.“
Ähnliche Überlegungen mögen die meisten Mitglieder der Gruppe in den organisierten Widerstand geführt haben.
Als im Oktober 1942 viele seiner Genossen verhaftet wurden, gelang meinem Vater die Flucht nach Berlin. Er beteiligte sich dort bis zu seiner Verhaftung im Juli 1944 am Aufbau einer großen Widerstandsorganisation, die in der Literatur Saefkow-Jacob-Bästlein-Gruppe genannt wird. Bernhard Bästlein war es Anfang 1944 nach einem Bombenangriff gelungen, aus dem Potsdamer Gefängnis zu fliehen und sich der Berliner Widerstandsorganisation anzuschließen.
Meine Mutter hatte in dieser Zeit nur selten Kontakt zu meinem Vater. Ab und zu brachte eine Genossin, die Verwandte in Berlin besuchen konnte, einen Brief, ein kleines Geschenk mit nach Hamburg oder konnte einen Brief meiner Mutter nach Berlin mitnehmen. Auf diese Weise erhielt mein Vater auch ein Tagebuch, das meine Mutter über meine ersten Lebensmonate geschrieben hatte.
Nach den schweren Bombenangriffen im Juli/August 1943 war mein Vater in großer Sorge, weil er nichts über das Schicksal seiner Familie wusste. Im August kam eine junge Frau, die im Erdgeschoss unseres Hauses in der Jarrestraße wohnte, zu meiner Mutter hinauf.
Darüber schreibt meine Mutter: „Aufgeregt stand sie in unserer Diele und nestelte an ihrem Strumpf. Sie zog einen Brief hervor, und ich erkannte die Handschrift meines Mannes. Als meine Untermieterin ihre Zimmertür öffnete – ich wusste inzwischen von ihr, dass sie für die Gestapo arbeitete – gingen wir zwei aufgeregten Frauen schnell in mein Zimmer. Der Brief war tatsächlich von Franz. Er hatte ihn an Luise Hesse in der Evangelischen Buchhandlung der Agentur des Rauhen Hauses am Jungfernstieg adressiert. Er bat Luise Hesse, mir den einliegenden Brief zu geben – aber er habe Verständnis, wenn sie es nicht tun wollte, bäte dann aber, ihn zu vernichten. Sie brachte ihn mir am gleichen Tag. Luise Hesse hatte Franz Jacob als interessierten Bücherfreund kennen gelernt und ihm manchmal ein Buch verschaffen können, das nur durch „Beziehung“ erhältlich war. Ihre Ablehnung des Nazisystems und gegenseitige Achtung hatten die Christin und den Kommunisten einander näher gebracht und gaben ihr den Mut, mir den Brief zu bringen und ihm den Mut, ihr zu schreiben.“ Wie vorhin, als ich über die Lehrerin meiner Schwester sprach, möchte ich hier sagen: Ein schönes Beispiel für Zivilcourage und für antifaschistische Solidarität.
Im März 1944 verbrachte meine Mutter mit ihren zwei Kindern einige Zeit auf einem Bauernhof in Sachsen. Es war organisiert worden, dass sie auf der Rückfahrt in Berlin ihren Mann besuchen konnte. Das war das erste und einzige Mal, dass er mich gesehen hat. Ich war anderthalb Jahre alt und kann mich leider nicht an diesen Augenblick erinnern. Eigentlich müsste ich jetzt noch über zwei andere Frauen sprechen, nämlich über die Bäuerin Olga Kahle, die ihr schon vorher einen Besuch in Berlin ermöglicht hatte, und Judith Auer, Kommunistin und Jüdin, die sie in Berlin aufgenommen hatte und meiner Schwester eingeschärft hatte, sich beim Einkaufen unauffällig zu verhalten und keinesfalls Rundstücke zu verlangen.
Anton Saefkow und mein Vater wurden Anfang Juli 1944 verhaftet, Bernhard Bästlein war schon vorher festgenommen worden. In ihrem Prozess vor dem Volksgerichtshof wurden sie zum Tode verurteilt. und gemeinsam am 18. September 1944 in Brandenburg hingerichtet. In der Begründung ihres Todesurteils heißt es: „…Saefkow, Jacob, und Bästlein sind alte kommunistische Funktionäre, die von einem abgründigen Hass gegen unseren Führer und seinen Staat erfüllt sind und daraus selbst in der Hauptverhandlung kein Hehl gemacht haben. Sie sind unbelehrbar und unverbesserlich Die wegen Hochverrat von ihnen verbüßten Strafen haben ebenso wenig Eindruck bei ihnen hinterlassen wie ihr nachfolgendes Verweilen im Konzentrationslager. Sie haben vornehmlich im fünften Kriegsjahr die KPD in einem derartigen Umfange wieder aufgezogen und die Wehrmacht zu zersetzen gesucht, dass hier für das Reich die allerschwersten Gefahren heraufbeschworen wurden…“
Meine Mutter wurde angeklagt, sie habe gewusst, wo ihr Mann sich aufgehalten und dass er politisch gearbeitet habe. Sie wurde mangels Beweisen freigesprochen, aber die Gestapo hatte mehr zu sagen: Sie verfügte ihre Einweisung in das Konzentrationslager Ravensbrück. Am Tag ihres Freispruchs erhielt meine Mutter den letzten Brief ihres Mannes und erfuhr, dass das Todesurteil bereits vollstreckt worden war.
Mich hat immer beeindruckt, dass Menschen es auch als Häftlinge im Konzentrationslager noch verstanden, menschlich zu handeln, also Widerstand zu leisten. Harry Naujoks, der im KZ Sachsenhausen Lagerältester war, berichtet in seinen Erinnerungen, dass es nach dem Novemberpogrom 1938 neben der SS auch Blockälteste gab, die jüdische Gefangene schikanierten. Friedrich Weihe, als früherer SS-Obersturmbannführer wegen krimineller Vergehen bestraft, hatte die Häftlinge seines Blocks nach dem Abendappell „Sport“ machen lassen, das heißt Laufschritt, Hinlegen, Hüpfen, Rollen, bis zum Umfallen. Wer von den Erschöpften einen Schluck zu trinken haben wollte, musste für einen Becher Wasser eine Mark bezahlen. Über dieses Verhalten war es zu einem heftigen Streit mit meinem Vater Franz Jacob gekommen und Weihe drohte ihm, der Lagerführung Meldung zu machen, dass er die Juden gegen ihn aufhetze. Daraufhin, so schreibt Harry Naujoks, „hielten wir es für ratsam, Franz Jacob aus der Schusslinie zu ziehen und ihn mit einem Arbeitskommando… nach Fürstenberg zu schicken. Dieses Kommando hatte den Auftrag, dort ein neues Konzentrationslager aufzubauen, Ravensbrück, in dem Frauen untergebracht werden sollten.“
In dieses Lager kam sechs Jahre später seine Frau, meine Mutter. Von einem Erlebnis im Winter 1944 hat sie mir immer wieder erzählt. In ihrem Block war Bauchtyphus ausgebrochen. Der Block wurde unter Quarantäne gestellt, denn die SS hatte große Angst sich anzustecken. Sie schreibt: „Der Block wird von Lagerpolizei umstellt, kein Häftling kann hinaus oder herein. An den elenden Verhältnissen in den Räumen, auf den Toiletten ändert sich nichts. Keine Seife, kein Toilettenpapier, keine zusätzliche Wäsche. Mein Bett steht dicht an der Barackenwand, ein ganz kleines Fenster in Reichweite. Eines Nachts, es muss schon dem Morgen zugehen, klopft es ans Fenster. Als ich die Klappe hochhebe, reicht mir jemand ein Päckchen hinein und ist schon wieder verschwunden. Im trüben Licht der Funzel öffne ich das kleine Paket. Ich heule schon, ehe ich seinen Inhalt richtig erkannt habe: eine Stück Seife, eine Rolle Toilettenpapier und vielleicht zwölf Scheiben geröstetes Brot. Ob einer heute nachempfinden kann, welche Schätze vor mir liegen. In dieser Hölle – diese Geschenke. Seife und Toilettenpapier und Brot. Klar, dass ich das Brot nicht alleine essen werde. Aber diese Solidarität! Die Frauen um mich herum heulen mit mir. Zwölf Scheiben Brot und geröstet! Wer hat sie sich vom Munde abgespart?“ Meine Mutter hat nie erfahren, wer dieses Päckchen gebracht hat.
Ich habe am Anfang berichtet, wie es meiner Mutter bei ihrer ersten Vernehmung im Stadthaus ergangen ist. Andere Männer und Frauen mussten viel schlimmere Torturen erleiden. Das Stadthaus war die zentrale Stelle des Nazi-Terrors in Hamburg. Das Stadthaus, in das nach 1945 die Baubehörde einzog, ist vor einigen Jahren an einen privaten Investor verkauft worden, der hier im Sommer ein luxuriöses Einkaufsquartier eröffnen will. Die Stadt Hamburg hat bisher keine Gedenkstätte für den Hamburger Widerstand eingerichtet. Und sie will es wohl auch in Zukunft nicht tun. Sie hat es dem Käufer des Grundstücks überlassen, dort ein „würdiges Gedenken für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ zu ermöglichen. Natürlich ist es wichtig an die Opfer zu erinnern. Aber wo ist die Erinnerung an diejenigen, die diese Gewaltherrschaft bekämpft haben? Wo ist die Erinnerung an die Helmuth-Hübener-Gruppe, an Hans Leipelt und Margaretha Rothe, die zum Hamburger Zweig der „Weißen Rose“ gehörten, an die Sozialdemokraten Walter Schmedemann und Katharina Corleis, an die Bästlein-Jacob-Abshagen-Organisation?
Die Würdigung der Stadt Hamburg für den Widerstand in Hamburg steht immer noch aus.
Auf die Frage, ob sich der Kampf gegen Hitler gelohnt habe, hat meine Mutter geantwortet: „55 Millionen Menschenleben sind … ausgelöscht worden: vergast, an der Front gefallen, in der Heimat umgekommen. Sollte man hier nicht fragen: Hat deren Tod einen Sinn gehabt? Ihr Leben wurde sinnlos für eine schlechte Sache geopfert… Die Widerstandskämpfer haben ihr Leben für Humanität und Frieden eingesetzt. Mein Mann ist an dieser Front gefallen.
Auch ich folgte meinem Gewissen und meiner Überzeugung. Die Entscheidung war nicht leicht. Aber Unrecht sehen und nichts dagegen tun? – Ich musste vor mir und meinen Kindern bestehen können.“