Laudatio für Antje Kosemund Verleihung des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland am 13. Mai 2013

23. Mai 2013

Antje Kosemund

„Wer kämpft, kann gewinnen“ hast Du, liebe Antje Kosemund, Berthold Brecht zitiert, als Du im Januar 1998 auf einem internationalen Symposium in Wien zur Aufarbeitung der Euthanasiegeschichte gesprochen hast – und  mit Brecht vollendet:

„Wer nicht kämpft, hat schon verloren“.

Liebe Antje, Du hast gekämpft, und Du hast gewonnen, sehr viel gewonnen, für Dich, für Deine Familie, für uns alle hier. Dafür gebührt Dir Dank und diese Ehrung heute.

Du hast mir und vielen anderen erzählt, dass Deine Aufmerksamkeit auf die Euthanasiegeschichte damit begann, dass Du die Sterbeurkunde Deiner nur ein Jahr älteren Schwester Irma Sperling, beim Aufräumen von alten Papieren 1983 gefunden hast. Und dann fiel Dir etwas auf, nämlich dass das Sterbedatum und Ausstellungsdatum fast ein Jahr auseinander lagen. Gestorben ist Deine Schwester Irma Sperling, vielmehr muss man heute sagen, ermordet wurde Deine Schwester Irma Sperling am 08.01.1944, im Alter von 13 Jahren. Die Sterbeurkunde wurde aber erst im Januar 1945 ausgestellt. Dieser Widerspruch, der vielen anderen vielleicht nicht besonders ins Auge gefallen wäre, machte Dich aufmerksam. Du wurdest aktiv.

Das ist, glaube ich, eine der Züge, die ich bei Dir all die vielen Jahre, in denen ich Dich begleiten konnte und wir zusammen gearbeitet haben, immer wieder erlebt habe. Wenn Dir etwas widersprüchlich vorkam, nicht logisch oder nicht hinnehmbar, hast Du nicht locker gelassen, bist Du den Dingen auf den Grund gegangen, bis Du eine Antwort bekommen hast.

Damals hast Du angefangen, Briefe zu schreiben, nach Wien und auch an uns in Alsterdorf, wo die Aufarbeitung der NS-Geschichte gerade begonnen hatte. Was Du dann in den Akten gelesen hast, hat Dich nicht nur tief bewegt, es hat Dich empört. Häufig hast Du über diese Deine Gefühle berichtet, die Dich nicht haben ruhen lassen und die Du dann mit Deinem mittlerweile großen Faktenwissen über den Komplex Euthanasie verbunden hast. In Publikationen hast Du berichtet, auf vielen öffentlichen Veranstaltungen, auf wissenschaftlichen Symposien, aber auch vor Studierenden, die sich durch Dich und Deine Geschichte immer wieder dafür interessieren lassen, was passiert ist, sich dann aber auch dafür interessieren, wie Du es schaffst, so viel in Bewegung zu setzen.

Das, liebe Antje, hast Du auf jeden Fall, und zwar immer vorneweg. Bevor es in Alsterdorf zu einer großen Diskussion kam, ob nicht eine Straße in Hamburg-Nord nach einem Euthanasieopfer benannt werden sollte, hast Du erreicht, dass es einen Irmgard-Sperling-Weg in Hamburg-Nord gibt. Bevor wir von Forschungsseite aus, die Frage gestellt haben, ob nicht eigentlich die in den Akten erwähnten neuropathologischen Hirnsektionen von Euthanasieopfern auch heutzutage noch irgendwo in Gestalt von Präparaten vorhanden sein müssten, überraschtest Du uns – aber auch die gesamte Fachöffentlichkeit in Deutschland – damit, dass es durchaus eine Gehirnkammer in der Baumgartnerhöhe in Wien, dem sog. Steinhof, gäbe.

Auch diese Geschichte ist ziemlich typisch für Dich. Im ORF hast Du 1994 einen Bericht gesehen, aus dem hervorging, dass die bis dahin unter Verschluss gehaltenen Präparate von Gehirnen und Gehirnschnitten aus der NS-Zeit in einem öffentlichen Gedenkraum ausgestellt werden sollten. Du hattest wohl gleich den Verdacht, dass auch das Gehirn Deiner Schwester Irma Sperling darunter sein könnte. Dein Verdacht wurde bestätigt und ab diesem Zeitpunkt hast Du geradezu eine Lawine losgetreten. Du warst es, die allen voran, gefordert hat, dass die sterblichen Überreste der Euthanasieopfer würdig bestattet werden müssten und keinesfalls öffentlich zur Schau gestellt werden dürften. Du hast das zu einem Zeitpunkt gefordert, als dies keinesfalls ein Allgemeinplatz war, so wie heute, sondern als dies fast aussichtslos erschien, weil alle amtlichen Stellen in Österreich etwas anderes vorhatten, nämlich konservieren und museal ausstellen, und Dich hinhielten.

Das hat Dich nicht abgehalten, Dich Stück für Stück immer eine Stelle höher zu arbeiten, bis Du schließlich dem Bundeskanzler der österreichischen Republik geschrieben hast, ihn zu Deinem Bündnispartner gemacht hast, und dann plötzlich alle untergeordneten Stellen bis zu dem zuständigen Stadtrat der Stadt Wien Dir beigepflichtet haben, dass es natürlich sei, dass die Opfer würdevoll bestattet werden müssten und eben nicht Teil einer musealen Präsentation werden dürften.

Als dann nach diesem ersten Etappensieg, plötzlich die Staatsanwaltschaft die Präparate wegen dem laufenden Verfahren gegen den Euthanasiearzt Dr. Gross beschlagnahmte und die Bestattung erneut in Frage stand, musste dies auf Dich wie ein weiterer Versuch des Hinhaltens wirken. Aber Du hast Dich nicht geschlagen gegeben, sondern erneut protestiert. Wieder hast Du alle Register des Briefeschreibens gezogen. Auch mich hast Du damals aktiviert. Die Argumente waren auf unserer Seite, die Beschlagnahmung als Maßnahme zur Beweissicherung konnte wenig überzeugen. Gemeinsam konnten wir erreichen, dass zumindest die sterblichen Überreste der Hamburger Opfer hier nach Hamburg überführt wurden.

1996 – das wissen die meisten hier im Raum – kam es dann zur feierlichen Bestattung der Gehirne der Hamburger Euthanasieopfer aus Wien hier auf dem Ohlsdorfer Friedhof. Und erst 2002, also sechs Jahre später, zur Bestattung von über 600 Urnen mit Gehirnen oder Gehirnteilen von Euthanasieopfern aus der sog. Gehirnkammer vom Steinhof auf dem Zentralfriedhof in Wien. Eine fast gigantischen Zeremonie mit über 4000 Gästen, die international, insbesondere in den USA Nachrichtenthema war.

Ohne Dich, liebe Antje, wäre dieses so nicht in Gang gekommen. Natürlich hast Du moralisch argumentiert, sehr moralisch und sicher ist das einigen Menschen auch aufgestoßen. Aber die Dynamik, die Du ausgelöst hast war so groß, dass es für die offiziellen Stellen letztlich kein Zurück mehr gab. Heute gehört die Beisetzung sterblicher Überreste von Euthanasieopfern, die sich in universitären oder anderen wissenschaftlichen Sammlungen befinden, zum Common Sense.

Tief getroffen hat Dich, dass weiß ich, dass Deine Schwester Irma Sperling, die ja in all den letzten Jahren zu einem Teil Deines Lebens geworden ist, mittlerweile dreimal beerdigt worden ist. Einmal 1944 in einem unbekannten Massengrab in Wien verscharrt, dann 1996 auf dem Ohlsdorfer Friedhof und ein letztes Mal eben 2002 bei der großen Zeremonie, weil sich nachträglich noch einmal einzelne Gehirnschnitte von ihr gefunden hatten.  Eine never ending story.

Zusammen waren wir – übrigens stets mit Ihnen zusammen, verehrte Frau Stapelfeldt – letztes Jahr erneut in Wien, wo noch einmal aufgefundene Gehirnschnitte von Euthanasieopfern, beigesetzt wurden. Tatsächlich eine never ending story, – für die Opfer nicht, für die Angehörigen nicht, für Dich nicht. Ich weiß – und ich wünsche es mir auch ganz stark – dass Du, auch wenn Du jetzt in Österreich wohnst, aber Hamburg liebst – wie Du mir anvertraut hast – heute nicht einfach mit Deinem Engagement endest, sondern Dich immer mal wieder zu Wort melden wirst und uns anderen hilfst, dass das Erinnern so lebendig bleibt und dass es weiterhin viele, vor allem junge Leute, erreicht.

Liebe Antje, Du hast viele Weggefährten auf diesem Weg gehabt.  Einen, den wir Beide gut kennen, möchte ich an dieser Stelle zu Wort kommen lassen. Es ist Alois Kaufmann aus Wien, der den Steinhof überlebt hat und der Dir, liebe Antje, 1998 einen Gedichtband gewidmet hat, aus dem ich eines seiner fast atemnehmenden Gedichte, wo es um die Trauer um die damals gewaltsam aus dem Leben Genommenen geht, um die Opfer der Euthanasie, verlesen will.

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„Lieber Freund, du bist nicht mehr unter den Lebenden und trotzdem oder gerade deshalb bist du mir näher als jeder andere… Damals im Spiegelhof, mein guter Freund Israel Herbert Riesenbaum, waren unsere Betten keine 20 cm voneinander getrennt und doch hielten wir uns fest, fest umschlungen … ich muss es sagen, es drängt mich danach, ich suche dich noch heute und vielleicht auch solange ich atmen kann. Gerne hätte ich gesprochen oder auch geschwiegen mit Dir, doch es durfte nicht sein.“

Alois Kaufmann hat mir mal gesagt, dass er Dich in besonderer Art und Weise verehrt, weil Du, wie er, Deine Trauer ehrlich gezeigt und stets versucht habest, das Unfassbare, was im Spiegelgrund passiert ist, Dir doch vorzustellen. Er hat mir aber auch gesagt, dass er Dich bewundert, weil Du – anders als er – aus der Geschichte ganz viel Energie und Kraft gezogen hast, aktiv zu werden und gerade auch in Wien so viel erreicht hast, was kein andere dort geschafft hat. Ich schließe mich dieser Bewunderung an.

Liebe Antje, vor Jahren, als Freunde von Dir, allen voran, Juan Romero, der ja auch für den heutigen Tag wieder den Anstoß gegeben hat, Dir nahegebracht haben, Dich für das Bundesverdienstkreuz aus all diesen genannten Gründen vorzuschlagen, hast Du mir fast etwas empört gesagt: „Michael, ich bin doch Antifaschistin“. Ehrlich gesagt, ich bin sehr froh, dass diese Aussage, ohne dass Du sie zurücknehmen musst, doch nicht weiter als Vorbehalt gegen die heutige Ehrung aufrecht erhalten hast, sondern dass Du jetzt offen und freudig JA zu der Annahme des Bundesverdienstkreuzes sagst und dass Du damit die Ehrung annimmst, die Dir für Deine Verdienste um unsere Erinnerungskultur angemessen ist und die nicht nur ich, sondern alle hier im Raum Dir von Herzen gewünscht haben.