Rede von Rolf Becker am 1. März 2014

5. März 2014

Aus der Bibel, Lukas 9, Vers 58

 „Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.“

 

Bald ist ein Jahr vergangen, seit die Gruppe der Lampedusa-Flüchtlinge hier in Hamburg eintraf. An der Position des Hamburger SPD-Senats und des Hamburger Bürgermeisters Scholz hat sich seitdem nur wenig verändert. Ihnen geht es nach wie vor darum, die Flüchtlinge in Einzelverfahren zu zwingen, um den Kriterien des Arbeitsmarktes entsprechend auswählen zu können: Wer ist verwendbar, wer nicht – wer darf bleiben, wer wird abgeschoben.

Dagegen steht die Forderung auf Anerkennung der Flüchtlingsgruppe in ihrer Gesamtheit – als einzige Möglichkeit, der Selektion in Brauchbare und Unbrauchbare zu entkommen. „Überflüssige Menschen“ hat Maxim Gorki die für das Kapital nicht mehr verwertbaren Menschen genannt.

Und: Am 1. April endet die Unterbringung der Geflüchteten in ihren Winterquartieren. Was danach? Die Vereinzelung der Gruppe wird dann unabwendbar, selbst wenn einigen durch Initiativen und engagierte Einzelpersonen Unterkunft gewährt wird. Hier sind wir gefordert.

Gefordert sind auch die, die heute nicht bei uns sind. Wir müssen sie wieder „ins Boot holen“. Zugeben, dass Fehler gemacht wurden, auch von unserer Seite. Die Folge: viele haben sich zurückgezogen – aus dem gewerkschaftlichen, dem kirchlichen Bereich, auch aus dem der zornigen SPD-Basis. Unsere Aufgabe: klarstellen, dass es weder um Schuldzuweisungen noch Rechthaberei geht, nicht um Profilierung dieser oder jener politischen Gruppe, sondern um das Schicksal der Geflüchteten.

Dazu von Bertolt Brecht:

WIE IMMER SIE EUCH MITSPIELEN Rolf Becker

Gebt keinen euresgleichen auf!

 (Fragment, 1936,  14/ 326)

 

Wie immer sie euch mitspielen

Gebt keinen euresgleichen auf!

Der Bauer, der den steinigen Acker gepflügt hat

Mag euch misstrauen wie einem Viehhändler

Und euch aus seiner Tür jagen:

Der ein Pferd zu wenig hat

Hat Ohren euch zu hören.

Gebt keinen euresgleichen auf!

Der Arbeiter, der die Maschine geölt hat

Die ihm nicht gehört, mag euch verraten

Viermal, dann vertraue ihm das fünfte Mal!

Setzt nichts aufs Spiel, aber setzt ihn in die Rechnung ein:

Gebt keinen euresgleichen auf!

 

Der Soldat, dem der Sieg nichts nützt

Mag seine Oberen fürchten und euch

An das Rad des Geschützes binden, dennoch

Ist er euer Helfer an dem bestimmten Tag

Wo ihr ihm die Augen geöffnet habt:

Gebt keinen euresgleichen auf!

 

Ihrem Feind folgen sie, wenn sie blind sind

Aber euch folgen sie, wenn sie sehen.

Gebt keinen euresgleichen auf!  

 

Ausdrücklich hier in Hörweite des Rathauses: Aus dem „Apostolischen Schreiben“ von Papst Franziskus „Über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute“:

 

Die Migranten stellen für mich eine besondere Herausforderung dar, weil ich Hirte einer Kirche ohne Grenzen bin, die sich als Mutter aller fühlt. Darum rufe ich die Länder zu einer großherzigen Öffnung auf, die, anstatt die Zerstörung der eigenen Identität zu befürchten, fähig ist, neue kulturelle Synthesen zu schaffen. Wie schön sind die Städte, die das krankhafte Misstrauen überwinden, die anderen mit ihrer Verschiedenheit eingliedern und aus dieser Integration einen Entwicklungsfaktor machen!

 

Ich   würde   mir wünschen, dass man den Ruf Gottes hörte, der uns alle fragt: » Wo ist dein Bruder? « (Genesis 4,9): Wo ist dein Bruder, der Sklave? Wo ist der, den du jeden Tag umbringst in der kleinen illegalen Fabrik, im Netz der Prostitution, in den Kindern, die du zum Betteln gebrauchst, in dem, der heimlich arbeiten muss, weil er nicht legalisiert ist? Tun wir nicht, als sei alles in Ordnung! Es gibt viele Arten von Mittäterschaft. Die Frage geht alle an! Die Hände vieler triefen von Blut aufgrund einer bequemen, schweigenden Komplizenschaft.

 

Wir dürfen nicht mehr auf die blinden Kräfte und die unsichtbare Hand des Marktes vertrauen…

 

Ich bitte Gott, dass die Zahl der Politiker zunimmt, die fähig sind, in einen echten Dialog einzusteigen, der sich wirksam darauf ausrichtet, die tiefen Wurzeln und nicht den äußeren Anschein der Übel unserer Welt zu heilen!

 

Rom, Vatikanstadt, 26. November 2013

Den Regierenden, auch hier in Hamburg, geht es vorrangig nicht um die 300 aus Lampedusa hierher Geflüchteten, sie könnten sie sogar problemlos aufnehmen. Warum sagen die Nein?

 

Zum einen, weil sie den Präzedenzfall fürchten – es könnten sich doch zahlreiche andere auf eine solche Ausnahme berufen – die Flüchtlingsströme nach Europa reißen schließlich nicht ab:

 

Nach Angaben internationaler Flüchtlingshilfsorganisationen haben durch die europäische Asylpolitik in den vergangenen 20 Jahren mehr als 20.000 Menschen ihr Leben verloren. Anfang Oktober 2013 ertranken über 360 afrikanische Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa – eine der schlimmsten Flüchtlingstragödien der letzten Jahre. Am 6. Februar 2014 versuchten 400 Migranten gemeinsam, in einer kollektiven Aktion, die hochgerüstete Grenze der spanischen Enklave Ceuta (eine der zwei direkten Außengrenzen der EU auf afrikanischem Boden) vom Meer aus zu überwinden. Beantwortet wurde der Versuch, auf EU-Territorium zu gelangen, mit Gummigeschossen und einer mörderischen Menschenjagd durch die spanische und marokkanische Grenzpolizei. Mindestens 15 Menschen verloren an diesem Tag ihr Leben, Dutzende wurden verletzt und illegal nach Marokko zurück geschoben.

 

Der andere Grund für die abweisenden Haltung des Hamburger Senats: es geht um die Sicherung bestehender innenpolitischer Machtverhältnisse. 2001 wurde die Hamburger SPD von einer CDU geführten Regierung im Bündnis mit FDP und der Schill-Partei „Rechtsstaatlicher Offensive“ abgelöst, weil sie angeblich in rechtlichen und sozialen Fragen, auch im Hinblick auf Zuwanderung und Flüchtlinge zu inkonsequent war. Diesen „Fehler“ versucht sie heute – unter nicht vergleichbaren Verhältnissen – zu vermeiden.

 

Hier gilt es für uns anzusetzen: die Zahl der Notleidenden nimmt zu, auch hierzulande, und dadurch das Verständnis von größer werdenden Teilen der Bevölkerung für das Leiden derer, die hier bei uns Zuflucht suchen.

 

Lasst uns für weitere Proteste mobilisieren. Den Regierenden klarmachen, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse zu ihrem Nachteil verändern, wenn sie ihre Entscheidungen nicht überprüfen und nicht in Verhandlungen mit den Flüchtlingen eintreten. They are here to stay!

 

 

Bertolt Brecht

 

Was für eine Kälte

Muss über die Leute gekommen sein!

Wer schlägt da so auf sie ein,

Dass sie jetzt so durch und durch erkalten?

So helft ihnen doch! Und tut es in Bälde!

Sonst passiert euch etwas,

was ihr nicht für möglich haltet!  

1931 wurde Brechts Warnung missachtet, die Folgen: Faschistische Herrschaft der Nationalsozialisten, Krieg, Völkermord und Auschwitz.

 Lasst uns heute gemeinsam wachsam bleiben.