Rede der Vertreterin der Universität Hamburg, Frau Dr. Claudine Hartau auf der Kundgebung zum 81. Jahrestag der Pogromnacht am 10. November 2019 auf dem Josef-Carlebach-Platz

19. November 2019

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Universität Hamburg ist in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass haben wir gerne Formulierungen benutzt wie: „Seit 100 Jahren ist die Universität …“, um dann häufig genug innezuhalten und zu denken: Nein, sie ist nicht 100 Jahre lang ein Ort kritischer Reflexion gewesen, ein Ort der Bildung und Vielfalt.

„Frei soll die Lehre sein und frei das Lernen“ – mit diesen Worten hatte der Sozialdemokrat Emil Krause im März 1919 den Beschluss der ersten demokratisch gewählten Bürgerschaft zur Gründung einer Universität euphorisch zusammengefasst – im November 1938 war die Hamburger Universität bereits sehr weit davon entfernt.

Schon am 1. Mai 1933 bekannte sie sich in einem Festakt zur „Nationalen Revolution“. Jüdische Wissenschaftler wurden aus dem Dienst entlassen, aufgrund des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das im April erlassenen worden war. Bereitwillig und widerstandslos nahm die Universität die Vertreibung vieler ihrer besten Persönlichkeiten hin. Schon Ende des Jahres war auch eine neue Hochschulreform abgeschlossen; die auf Selbstverwaltung basierende Universitätsverfassung wurde zugunsten des „Führerprinzips“ abgeschafft und der Rektor Adolf Rein präsentierte die in „Hansische“ umbenannte Universität stolz als „erste nationalsozialistische Hochschule in Deutschland“.

Antisemitismus an der Universität begann jedoch schon sehr viel früher. Der Psychologe William Stern musste sich schon im Gründungsjahr gegen ein studentisches Flugblatt zur Wehr setzen, das zum Boykott von Vorlesungen jüdischer Professoren aufrief.
Der Geograph Siegfried Passarge hetzte in den 20er Jahren offen gegen Juden und Marxisten. Seine antisemitischen Einstellungen verbreitete er ungehindert auch in seinen Vorlesungen – alles unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit. Im Jahre 1957 – ja, tatsächlich: 1957 – verlieh die Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät dieser Universität ihm die Ehrendoktorwürde.

Aber es waren vor allem jüdische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gewesen, die der jungen Universität zu einer Blüte und internationalem Ansehen verholfen hatten: der
Philosoph Ernst Cassirer etwa – der 1929 sogar Rektor der Universität wurde; der bereits erwähnte Psychologe William Stern, Erfinder des Intelligenzquotienten; Erwin Panofsky, einer der wegweisenden Kunstwissenschaftler des 20. Jahrhunderts; die Philologin Agathe Lasch, die erste Frau auf einem Hamburger Lehrstuhl; der Jurist und Friedensforscher Albrecht Mendelssohn Bartholdy, dessen Institut für Auswärtige Politik eines der ersten Friedensforschungsinstitute der Welt war; der Physiker Otto Stern, späterer Nobelpreisträger – alles Namen, mit denen wir uns heute gerne schmücken. Kein Widerstand regte sich gegen ihre Vertreibung.
Sicher gab es auch Beispiele persönlichen Mutes und risikobereiten Widerspruchs.
Tragisch der Fall von Martha Muchow, Mitarbeiterin William Sterns, die, obwohl sie selbst nicht bedroht war, aus Erschütterung über die Ereignisse im September 1933 Selbstmord beging. Magdalene Schoch, die 1932 die erste Frau war, die an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät habilitierte und im selben Jahr die Leitung der Rechtsabteilung des Mendelssohn-Instituts wie auch der Amerika-Bibliothek übernahm, war die einzige, die 1936 zur Beerdigung Mendelssohns nach England fuhr, trotz der Drohung, sie riskiere mit dieser Reise ihre Stellung. Als Reaktion auf die zunehmende Nazifizierung kündigte Schoch im folgenden Jahr selbst und emigrierte in die USA. Rainer Nicolaysen hat es neulich sehr gut formuliert: Ihre Entscheidung war nicht freiwillig, aber autonom.

Zu den wenigen Regimegegnern im Hamburger Lehrkörper gehörten der Anglist Emil Wolff, der später der erste Nachkriegsrektor wurde, der Altphilologie Bruno Snell, der Mediziner Rudolf Degkwitz und der Pädagoge Wilhelm Flitner, die offen oder mehr oder weniger unmissverständlich ihre Regimekritik zum Ausdruck brachten. Der einzige überindividuelle Widerstand an der Hamburger Universität aber kam von Studierenden der „Hamburger Weißen Rose“, von denen vier dafür ihr Leben einbüßten: Hans Leipelt, Reinhold Meyer, Margaretha Rothe und Friedrich Geussenhainer. An sie erinnert seit 1971 eine Gedenktafel im Audimax.

Insgesamt wurden mehr als 90 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, knapp 20 Prozent des Lehrkörpers, entlassen. Fast alle der als „nichtarisch“ von der Universität Vertriebenen flohen in ein schwieriges Exil in die USA, nach England oder andere Länder. Der Professorin für Niederdeutsche Philologie Agathe Lasch gelang die Flucht nicht mehr. Sie wurde 1942 nach Riga deportiert und dort bereits im August ermordet.  Sechs Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen (Ernst Delbanco, Hedwig Klein, Agathe Lasch, Gerhard Lassar, Martha Muchow und Kurt Perels) und die vier Studierenden der „Hamburger Weißen Rose“ verloren durch das Naziregime ihr Leben: ermordet im KZ, durch die Folgen einer unmenschlichen Haft oder durch Freitod. Im April 2010 wurden für sie 10 Stolpersteine vor dem Hauptgebäude der Universität verlegt.

Für uns heute schwer nachvollziehbar waren es gerade die Studenten – und ich bleibe hier mal bewusst in der männlichen Form -, die eine führende Rolle bei der Gleichschaltung übernahmen. Schon 1930/31 erreichte der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund (NSDStB) bei den AStA-Wahlen an fast allen Universitäten die Führung, auch in Hamburg, das als „Hochburg der linksgerichteten Studentengruppen“ galt. Im April 1933 wurden alle kommunistischen, sozialdemokratischen und pazifistischen Studentenverbände verboten, drei Monate später auch die jüdischen. Eine Schlüsselrolle nahm Wolff Heinrichsdorff ein, der zum „Führer der Hamburger Studentenschaft“ wurde. Unter ihm beteiligte sich der NS-Studentenbund aktiv an der Vertreibung „unliebsamer“ Hochschullehrer, attackierte Professoren als „Reaktionäre“ und „Liberale“ (man sieht, wie relativ solche Etiketten sind …) und mischte sich erfolgreich in die Hochschulpolitik ein. Schon im April 1933 übermittelte er dem Senat eine Liste von sechs jüdischen Professoren, deren Entlassung den NaziStudenten besonders dringlich erschien (Eduard Heimann, Theodor Plaut, Richard Salomon, William Stern, Erwin Panofsky und Walter A. Berendsohn) – und fand bei der Behördenspitze ein offenes Ohr.
Heinrichsdorff stieg übrigens später zum persönlichen Assistenten von Goebbels auf, leitete das „Institut zum Studium der Judenfrage“ und wurde im August 1945 durch ein Sowjetisches Militärtribunal zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Der Ausschluss vom Studium drohte zunächst vor allem aus politischen Gründen – bis Anfang 1934 wurden mindestens 549 Studierende wegen „kommunistischer“ oder anderer Betätigung von der Universität verwiesen. Die Vertreibung der jüdischen Studenten verlief dagegen schrittweise. Mit dem „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Hochschulen und Schulen“ vom 25.4.1933 wurde zunächst die Immatrikulation jüdischer Studienanfänger verhindert. Die bereits Eingeschriebenen konnten theoretisch weiterstudieren, doch wurde sie durch eine Flut von stetig schärfer werdenden Erlassen und Gesetzen, aber auch durch das antisemitische Klima in der Studentenschaft immer stärker eingeschränkt. Die Hamburgerin Ingrid Warburg-Spinelli berichtet in ihren Erinnerungen, wie ein Kommilitone zu ihr kam und ihr sagte, sie möge es ihm nicht übelnehmen, dass er sie nicht mehr grüßen werde, aber er liefe sonst Gefahr, sein Stipendium zu verlieren. Als sie in der Bibliothek von einer Leiter fiel und sich den Arm brach, war keiner der Umstehenden bereit, ihr zu helfen.

Drei Tage nach der Pogromnacht, am 12. November 1938, teilte ein maschinenschriftlicher Anschlag des Rektors mit: „Inländischen jüdischen Studierenden ist bis auf weiteres die Teilnahme an Vorlesungen und Übungen sowie das Betreten des Universitätsgebäudes, der Kliniken, Institute und Seminare verboten“. In Hamburg waren davon noch 9 Studenten betroffen.

Nach dem Zusammenbruch von 1945 wurde die Universität nach einem halben Jahr zum WS 1945 wiedereröffnet, unter dem heutigen Namen „Universität Hamburg“. Zwar wurde noch im Mai 45 ein Entnazifizierungsverfahren in Gang gesetzt (anfänglich sogar in Eigenregie durch die Universität), doch von den 125 als belastet relegierten Hochschullehrern wurden in den kommenden Jahren 94 wiedereingestellt. Eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit fand nicht statt. In der Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Universität 1969 findet dieser Teil der Geschichte kaum Erwähnung oder nur in Wendungen wie „besonders schwere Jahre der Fakultät“ oder „die menschlich schwersten Jahre in der bisherigen Geschichte der Fakultät“; bei der Auflistung der Professuren steht bei den von der Universität Vertriebenen lediglich die Bemerkung „Ruhestand“ oder „entlassen“.
Von den Emigranten kehrten nur sehr wenige zurück, und wenn, wurden sie meist nicht mit offenen Armen wieder aufgenommen. So etwa im Fall von Siegfried Landshut, der 1951 schließlich doch den ersten Hamburger politikwissenschaftlichen Lehrstuhl erhielt – aber gegen die Mehrheit der Fakultät.
Man wollte verdrängen, und die Remigranten waren dabei Störfaktoren.

In den 1970er Jahren waren es zunächst einzelne Anlässe, die der damalige Präsident Peter Fischer-Appelt aufgriff, um an die Geschichte im Nationalsozialismus zu erinnern. Eine systematische Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit begann 1983 zum 50. Jahrestag der Machtergreifung. Das wichtigste Ergebnis daraus ist das dreibändigen Werk Hochschulalltag im ›Dritten Reich‹. Die Hamburger Universität 1933–1945, das 1991 erschien und an dem fast alle Fächer und Disziplinen waren beteiligt waren. So, wie die Hamburger Universität die erste gleichgeschaltete gewesen war, war sie nun zumindest die erste deutsche Hochschule, die sich diesem Teil ihrer Geschichte stellte.

Dem Wachhalten der Erinnerung dient auch die Benennung von Hörsälen im Hauptgebäude der Universität nach vertriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – nach Ernst Cassirer, Agathe Lasch, Erwin Panofsky, Emil Artin, Magdalene Schoch, Mendelssohn Bartholdy und Eduard Heimann.1) Die Bibliothek der Erziehungswissenschaft heißt 2007 nach Martha Muchow. Und ganz aktuell wird auch im zum Jubiläum neu eröffneten Universitätsmuseum im Hauptgebäude an die jüdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und die Zeit des Nationalsozialismus erinnert.

Diese Elemente der Erinnerungskultur sind nur kleine, wenn auch wichtige Schritte, das kollektive Gedächtnis wachzuhalten – aber damit kann es nicht getan sein. Erinnern muss Impulse zum Nachdenken, zum Dialog, zum Miteinander Reden geben. Erinnern muss eine Brücke zur Gegenwart schlagen.
Jeder Blick in die Zeitung zeigt uns, wie weit entfernt wir ganz aktuell sind von einer Welt des friedlichen Miteinanders, des Verständnisses, der Verständigung über die Grenzen verschiedener Kulturen und verschiedener Religionen hinweg. Aber Gewalt und Krieg sind keine Naturgewalt, die unversehens über uns hereinbricht, Gewalt und Krieg haben Ursachen, gesellschaftliche Ursachen, und deshalb ist gerade die Universität gefordert, sich damit auseinanderzusetzen.

Der Universität, als ein Ort kritischer Reflexion, trägt eine besondere Verantwortung für Wissenschaft, Gesellschaft, Frieden und Humanität. Sie will, so hat sich unsere Universität in ihrem Leitbild 1998 als Aufgabe gesetzt, „zur Entwicklung einer humanen, demokratischen und gerechten Gesellschaft beitragen“.

Die studentischen Mitglieder des Akademischen Senats hatten für die letzte Sitzung einen Aufruf zum 9. November eingebracht, die Sitzung wurde aufgrund der aktuellen Ereignisse um Herrn Lucke aber leider abgesagt. Ich möchte deshalb trotzdem mit dem letzten Absatz aus diesem Aufruf schließen:

„Wir sehen uns mit neuer Entschlossenheit herausgefordert, für eine Gesellschaft einzutreten, in der jeder Mensch sich in solidarischer Gemeinschaft frei entfalten kann. Solidarität und Freiheit erfordern ein wachsendes Maß sozialer Gerechtigkeit. Sie erfordern unsere gemeinsame Sorge für Frieden und den Erhalt unserer Lebensgrundlagen. Das sind globale Herausforderungen, die uns alle betreffen und denen unsere Arbeit, unser Lernen, unsere Kreativität und unser Engagement gelten. Wir streben nach einer Welt ohne Gewalt, denn die Menschenwürde ist unteilbar.“

1 Die Hörsaalbenennungen wurden 1999 zum 80. Jahrestag der Gründung dieser Universität begonnen und 2011 zum 100. Jahrestag der Errichtung des Hauptgebäudes abgeschlossen.