Wir erinnern heute an den 1.September 1939

geschrieben von Steffi Wittenberg

31. August 2011

Rede von Steffi Wittenberg zum Anti-Kriegstag in Hamburg am 1. September 2011 (es gilt das gesprochene Wort)

Wir erinnern heute an den 1.September 1939, den Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen. Ich war 13 Jahre alt, lebte mit meiner Mutter noch in Hamburg, während mein Vater und mein Bruder aufgrund der Verfolgung der Juden bereits vor fast einem Jahr nach Montevideo, Uruguay geflohen waren. Unsere für Dezember 1938 geplante Ausfahrt war geplatzt, weil die urugu¬ayische Regierung unsere Einreisevisa für ungültig erklärt hatte. Wir waren also am 1. September 39 noch in Hamburg und erfuhren vom Überfall auf Polen. Meine Mutter war entsetzt und meinte, jetzt kommen wir nicht mehr aus Deutschland heraus, wir Juden werden alle umgebracht. Ich tröstete sie, aber in mein Tagebuch hatte ich eingetragen: „Heute hat der Führer die Wehrmacht zu den Waffen gerufen, ausgerechnet an Tante Gretes Geburtstag.“ Natürlich war mir die Tragweite des Krieges bewusst, aber den Geburtstag meiner Lieblingstante hätte ich doch allzu gern gefeiert. Schon am 30. Januar 1933, als Hitler zum Reichskanzler ernannt wurde, befürchtete meine Mutter, dass die Juden alle ermordet würden. Wir hatten gerade noch rechtzeitig Glück: Ende Dezember 1939 konnten wir mit einem gültigen Visum nach Uruguay ausreisen. In Europa nahm der Blitzkrieg seinen Verlauf und forderte viele Menschenleben: In Polen, Holland, Belgien, Dänemark, Frankreich und ganz besonders wüteten die Faschisten in den Städten und Dörfern der Sowjetunion. Es wurde ein Krieg der verbrannten Erde,, als dann vor 70 Jahren am 22. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht ihren Rußlandfeldzug begann. Seitdem gehörte auch die Sowjetunion zu den alliierten Streitkräften, die den Hitlerfaschismus bekämpften.

In Uruguay lasen wir die Kriegsberichte aus der Sicht der Alliierten in den Zeitungen und sahen englische, amerikanische und auch sowjetische Wochenschauen über die Gräueltaten der Invasoren. Kurt Wittenberg, jüdischer Exilant aus Ostpreußen, mit dem ich nun schon 63 Jahre verheiratet bin, war in Uruguay aktiv im Deutschen Antifaschistischen Komitee, das sich später der Bewegung Freies Deutschland anschloss. Freunde und Freundinnen des Komitees sammelten Gelder, strickten Wollhandschuhe, die für die Rote Armee bestimmt waren.

Für jeden historisch Denkenden bleibt es die Frage aller Fragen. Wie kam es, dass ein zivilisiertes fortgeschrittenes Volk wie das deutsche, etwas so Barbarisches wie die Entrechtung, Vertreibung und Ermordung von Juden hinnehmen und ins Werk setzen konnte? Wie kam es zum industriellen Massenmord von 6 Millionen Juden, von 500.000 Sinti und Roma, wie kam es zur Euthanasie, zum Mord und Verfolgung von Christen, Sozialisten, Gewerkschaftern, Zeugen Jehovas, von Andersdenkenden,und zur Akzeptanz der Rassenideologie? Wieso gab es für die deutschen Verbrechen so viele Kollaborateure in den zahlreichen besetzten Ländern, aus den verschiedenen Nationen? Der in der Illegalität kämpfende Opposition, bestehend aus Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen und auch Juden gelang leider keine Wende, nein, wie erwähnt, sie wurden selbst Opfer. Stellvertretend nenne ich hier den 17jährigen Hamburger Verwal-tungslehrling Helmuth Hübener, der parteilos, aus einem Arbeiter-elternhaus stammend, 1941 durch einen englischen Radiosender die Grausamkeiten des Rußlandfeldzuges mitbekam. Er tippte auf der Schreibmaschine mit Durchschlägen Flugblätter gegen den Krieg und verteilte sie mit Freunden. Er wurde 1942 von seinem Vorgesetzten entdeckt und verraten und vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Am 27. Oktober 1942 wurde er in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Seit wenigen Tagen trägt die Schule Benzenbergweg in Barmbek den Namen „Stadtteilschule Helmuth Hübener“.

Viele Nazianhänger in Deutschland hatten ihr Elend erst zum Kriegsende empfunden, als auf die eigenen Städte die Bomben der Alliierten fielen und als viele Deutsche aus deutschen oder auch besetzten Gebieten fliehen mussten, und als die eigene Versorgung knapp wurde. Selbst als schon zahlreiche deutsche Soldaten gefallen waren, gab es noch ein lautes JAA auf Goebbels Frage „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ . Der Schrecken und die Angst waren dann groß, als die Rote Armee deutschen Boden betrat und die deutsche Bevölkerung nicht gerade mit Samthandschuhen anfasste. Noch heute berührt es viele Deutsche nicht, was zuvor die Wehrmacht, die SS der sowjetischen Bevölkerung und vielen anderen Völkern angetan hat. Und wie viele Verbrechen deutscher NS-Täter ungesühnt geblieben sind und wie viele von ihnen wieder in wichtige Ämter berufen wurden. .(Heinz Reinefahrth, der „Schlächter von Warschau“, mitveranwortlich für den Tod von 15.000 Juden des Warschauer Ghettos, am Kriegsende SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei, wurde von einem Hamburger Gericht mangels Beweisen freigelassen und war nach dem Krieg 15 Jahre (1951-1964) Bürgermeister von Westerland auf Sylt).

Ich lebe mit meinem Mann seit 1951 wieder in Deutschland – in Hamburg, meiner Heimatstadt. Als wir ankamen, haben uns ehemals Verfolgte – die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – geholfen uns wieder einzuleben. Wir wohnten zunächst bei einer Familie, deren Sohn in Rußland gefallen war. Als wir auszogen, eine eigene Wohnung bekamen, hatten wir einen kleinen Disput wegen der Miete. Eine gemeinsame Bekannte berichtete uns dann, dass die Familie sehr böse auf uns war und gesagt hatte: „Die Juden werden schon wieder frech“.

Wir erlebten die Wiederaufrüstung, den Kampf um die Stationierung der Pershing-Raketen, den Kalten Krieg, der die Welt praktisch an den Rand eines Atomkrieges brachte. Die VVN kümmerte sich nicht nur um die Entschädigung für die NS Verfolgten, Sie sah es als ihre wichtige Aufgabe an, den alten und neuen Nazis entgegenzutreten. Heute leben wir mit einer legalen NPD, Neonazis, die unter Polizeischutz ihre Kundgebungen realisieren und nur ab und zu aus taktischen Gründen auf einen anderen Platz ausweichen müssen,

Im Berliner Wahlkampf plakatierte die NPD jüngst groß in der Nähe des Holocaust Mahnmals und des jüdischen Museums den fatalen Slogan „Gas Geben“. woraufhin der Präsident des Zentralrats der Juden Dieter Graumann seine Forderung auf NPD Verbot erneuerte. Wir die VVN warten schon lange vergeblich darauf, dass diese Partei verboten wird. Wir leben in einer alles andere als friedlichen Welt: Deutsche Soldaten befinden sich und sterben auch schon in Afghanistan, Fregatten befinden sich am Horn von Afrika zur Observierung und Bekämpfung der Piratenschiffe, wir liefern U-Boote nach Israel, Panzer nach Saudiarabien, und allerlei Rüstungserzeug-nisse in Krisengebiete. Und jetzt tauchen in libyschen Waffenbeständen auch noch deutsche Gewehre auf.

Gebraucht werden aber Mittel, die den Hunger bekämpfen. Der Papst hat bei seinem Besuch Spanien einen wahren Satz gesagt, den ich doch gern wiederholen möchte: „Wir müssen umdenken in der Wirtschaft: der Mensch muss im Mittelpunkt stehen und nicht der Profit.“ Wir jammern um die Börse, um die Schuldenkrise und alle sollen sparen. Ich denke wir sollten bei der NATO anfangen, deren Bomben -etat nicht niedrig sein dürfte, sie will dadurch Zivilisten schützen, aber vor kurzem, einigen spärlichen Informationen zufolge, ist sie gekenterten libyschen Flüchtlingen nicht zu Hilfe geeilt.

Ich spreche mich aus geschichtlichen und humanitären Gründen vehement gegen Abschiebungen aus, an denen sich auch Hamburg beteiligt.. Und weil ich ein Fan von Multikulti bin: das macht unsere Stadt bunt und interessant. Wir können alle voneinander lernen und vielleicht einmal in Frieden ohne Angst vor materieller Not, ohne Rassismus und Antisemitismus, würdig und gebildet, in Lohn und Brot und klimageschützt miteinander leben.

Im Artikel I der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 heißt es: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Diese Welt muss doch Wirklichkeit werden.